Parallelgesellschaften in Österreich?

Gibt es aus Ihrer Sicht sogenannte Parallelgesellschaften in Österreich? Wenn ja,welche? Wie kann deren Bildung vorgebeugt werden? Welche Rolle spielt dabei die gesellschaftliche Teilhabe von MigrantInnen? Welchen Beitrag können MigrantInnenorganisationen und MigrantInnenmedien zur Vorbeugung von Parallelgesellschaften leisten?

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Dolores Bakos

Landtagsabgeordnete Wien und Sprecherin für Integration, Frauen, Generationen, EU und Internationales, NEOS

In jeder Gesellschaft gibt es „parallele Gesellschaften“ und unterschiedliche Lebenswelten. Das Wichtige dabei ist jedoch immer, dass sie ohne Abschottung, ohne Ausschreitungen oder gar gewalttätige Auseinandersetzungen auskommt, dafür aber mit viel Austausch und Teilhabe agiert. Gerade in einer Weltstadt wie Wien, in der unterschiedlichste Backgrounds vorzufinden sind, bestehen natürlich auch unterschiedliche Herausforderungen.

MigrantInnenorganisationen und MigrantInnenmedien spielen bei der Bewältigung dieser Herausforderungen ganz klar eine große Rolle. Wien hat ein vielseitiges Angebot an Organisationen, die zahlreiche Aufgaben im Bereich Integration übernehmen. Diese Organisationen müssen auch weiterhin gefördert und unterstützt werden, denn sie leisten einen unabdingbaren Beitrag zur schnellen Integration von Menschen und zur Verhinderung der Bildung von Parallelgesellschaften.

Das reicht aber nicht. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Die Etablierung von Parallelgesellschaften kann letzten Endes nur durch Chancengerechtigkeit bekämpft werden, die vor allem durch Bildung erreicht wird. Bildung ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten und perspektivenreichen Leben, der nicht nach der Herkunft oder einer bestimmten Zugehörigkeit fragen darf.

Daneben haben Teilhabemöglichkeiten eine große Gewichtung. Alle Menschen – gleich, welchen Hintergrund sie mitbringen – sollten die Möglichkeit haben, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Nicht umsonst inkludiert das Wort „Teilhabe“ einerseits das „Teilen“ und andererseits das „Teilnehmen“. Nur in diesem Zusammenspiel bekommen Menschen das Gefühl und die Anerkennung, ein wichtiger Teil der Gesellschaft zu sein.

Das ist eine Tatsache, die Parallelgesellschaften oder das Aufziehen von Mauern und Grenzen nie werden bieten können.

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Safak Akcay

Abgeordnete zum Wiener Landtag und Gemeinderat, SPÖ-Integrationssprecherin

Die SPÖ steht für eine offene Gesellschaft. Diese sehen wir derzeit durch die (notwendigen) Lockdowns im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung ernstlich in Gefahr. Die wichtigen Deutsch- und Wertekurse können aufgrund der Ausgangsbeschränkungen nicht stattfinden. Die Folge davon ist Abschottung, die Sprachbarrieren werden eher größer als abgebaut und die Segregation nimmt zu. Nach Bewältigung der Pandemie werden daher österreichweit die Integrationsmaßnahmen verstärkt werden müssen.

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DI.in Gabriele Fischer

Tiroler Landesrätin für Integration, Die Grünen

„Parallelgesellschaft“ bezeichnet eine abgegrenzte Gruppe, die sich gesellschaftlich selbst organisiert. Davon können wir in Österreich in Zusammenhang mit Migration nicht sprechen: MigrantInnen haben vielfältige Beziehungen zur Mehrheitsgesellschaft – bei der Arbeit, in der Schule, beim Einkaufen, bei der Ärztin, … Was wir aber sehen, sind Tendenzen Einzelner oder kleiner Gruppen von Ethnien, die sich gegenüber der Gesellschaft abgrenzen. Mit dem Tiroler Leitbild zum Zusammenleben „Gemeinwohl und Zugehörigkeit stärken“ haben wir eine wichtige Grundlage geschaffen, solchen Tendenzen entgegenzuwirken. Bei allen Bemühungen in der Integration geht es darum, Zugehörigkeit herzustellen und zu ermöglichen, damit alle hier lebenden Menschen am gesellschaftlichen Leben partizipieren können und sich für das Gemeinwohl aller einsetzen. MigrantInnenorganisationen und -medien können wichtige Bindeglieder in MigrantInnen-Communitys hinein und damit Partner für die Integration und das Zusammenleben sein.

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Wolfgang Tonninger

Obmann „fairMATCHING“

Provokativ formuliert könnte man sagen, dass die Corona-Pandemie wenig Neues zutage gebracht hat, dass sie aber bestehende gesellschaftliche Tendenzen wie durch ein Brennglas gebündelt und weiter zugespitzt hat. Das heißt auch, dass sich für Menschen, die schon vor der Pandemie nahe an prekären sozialen Verhältnissen gelebt haben, dieser Abstand weiter verringert hat. Wenn Menschen den Anschluss verlieren, entstehen Parallelgesellschaften – das wissen wir.

Wir wissen aber auch, dass jede Form der gesellschaftlichen Teilhabe der Bildung von Parallelgesellschaften entgegenwirkt. Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen, die wir in den letzten vier Jahren mit „fairMATCHING“ in der Begleitung von Geflüchteten in die Arbeitswelt gesammelt haben, haben wir unsere „matchBOX“ entwickelt, eine partizipative, dialogische und experimentelle Plattform, mit der wir versuchen, die Kluft zwischen ökonomischer und sozialer Teilhabe zu schließen. Wir träumen von Vielfalt jenseits sozialromantischer Verklärung. Wir arbeiten mit den Spannungen, die da sind, und vertrauen auf die Reibungswärme, die entsteht, wenn Menschen sich auf Augenhöhe begegnen – auch, weil wir von führenden Systemtheoretikern wie Peter Kruse gelernt haben, dass harmonische Systeme dumme Systeme sind und Innovation nur dort gedeiht, wo mit Differenzen kreativ umgegangen wird.

Die „matchBOX“ als Raum, in dem sich soziale und ökonomische Innovationen die Hand geben, kann nur funktionieren, wenn wir diesen Raum gemeinsam denken und gemeinsam gestalten, Einheimische und Newcomer Hand in Hand, von Anfang an. Darum geht es, wenn wir von Partizipation und Teilhabe sprechen.

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Emer. o. Univ.-Prof. Dr. Hans-Jürgen Krumm

Netzwerk SprachenRechte

Parallelgesellschaften sind nichts grundsätzlich Schlechtes: Es gibt sie in vielen Bereichen, etwa die Villengegenden in Döbling oder am Wörthersee, die Treffpunkte von ZuwanderInnen aus Deutschland oder die Wohngebiete von Minderheiten in Österreich. Solche „Parallelgesellschaften“ verleihen den Menschen Sicherheit: Hier erfahren sie in der Sprache, die sie am besten beherrschen, wie Österreich und wie Integration in Österreich funktionieren, welche Werte wichtig sind und welche Chancen der Teilhabe sie haben. Gesellschaftlich problematisch werden solche „Parallelgesellschaften“ nur dann, wenn sie als nicht zur Gesamtgesellschaft zugehörig gesehen werden und sie sich abkapseln – das aber passiert meist unter Druck von außen (dazu rechne ich auch zu starken Sprachzwang und Diskriminierung). Um es vereinfacht zu sagen: Wenn man ZuwanderInnen die Gemeindewohnungen wegen unzureichender Deutschkenntnisse versperrt, müssen sie in die „Parallelgesellschaft“ ausweichen.

Medien und Organisationen (nicht nur MigrantInnenorganisationen, sondern auch NGOs, Sportvereine und soziale Gruppierungen) erreichen viel, wenn sie voraussetzungsfrei (also auch unabhängig von bestandenen Tests) offen sind, wenn sie mehrsprachige Angebote machen und die mehrsprachige Sprachverwendung Normalität ist und wenn sie Mentoring-Systeme organisieren. Das alles wird aber nur funktionieren, wenn nicht öffentlich und von den Regierungen (Bund und Bundesländer) immer wieder auf Segregation zielende diskriminierende Handlungen und Äußerungen gesetzt werden.

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Kaltrina Durmishi

Obfrau des Vereins „Koordinationsrat albanischer Vereine in Österreich“

Das Wort „Parallelgesellschaften“ hat eine sehr negative Konnotation und es ist notwendig, die Sache differenzierter zu betrachten. Menschen ausländischer Abstammung ist es kaum möglich, sich der eigenen Herkunft völlig zu verschließen, und sie werden in ihre Kulturkreise gedrängt. Es gibt in Österreich Parallelgesellschaften, bei denen die ursprüngliche Identität mit der österreichischen Identität in Konflikt gerät. So entstehen einzelne Kreise: Jobs werden innerhalb dieser Kreise vergeben; Kinder geraten in ähnliche Schulbahnen; Einkäufe werden in entsprechenden Supermärkten erledigt; sie besiedeln dieselben Wohngegenden und bemühen sich um Wohnmöglichkeiten in diesen; Freizeitaktivitäten passieren nur innerhalb des Kreises. Die deutsche Sprache brauchen sie so überhaupt nicht.

Wir, die albanische Community, leben auch in einer Art Parallelgesellschaft, auch wenn man das, wie anfangs erwähnt, differenziert betrachten muss, weil wir das nur für ein paar Anlässe im Jahr tun, die sonst nicht das Alltagsleben berühren. Unsere Strategie lautet, durch Vereinsarbeit nicht nur zur Integration beizutragen, sondern auch die „Schwachen“ in der Gesellschaft zu betreuen, um zu verhindern, dass sich Parallelgesellschaften der negativen Art bilden. Wir fördern den politischen Aktivismus und die Inklusion; wir nehmen Vorzeigebeispiele von Integration (studierte oder sehr gut ausgebildete Menschen in Österreich, Menschen in hochrangigen Positionen, erfolgreiche Künstler und Unternehmer, …) und präsentieren sie, um aufzuzeigen, was alles möglich ist; wir beraten in Studienangelegenheiten; wir veranstalten albanische Kulturwochen mit dem Ziel, das Publikum zu durchmischen; wir schaffen Koordination in komplexen Gesellschaftsfragen. Ein aktuelles Beispiel: die Corona-Impfung. Zur Aufklärung der Bevölkerung haben wir in Österreich niedergelassene Ärzte albanischer Abstammung zu Wort kommen lassen und der breiten Öffentlichkeit gezeigt, wie sich einer dieser Ärzte impfen ließ.

Das ist die Antwort auf die Frage, was man dagegen tun kann: Die einzelnen Communitys müssen sich selbst organisieren – und das kann der Staat fördern.

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Stefan Berger

Bezirksparteiobmann Wien-Favoriten, Abgeordneter zum Wiener Landtag und Mitglied des Wiener Gemeinderats, FPÖ

Nicht nur immer wieder bekannt werdende Vorfälle in Wien-Favoriten, sondern auch ein Blick in die Gesellschaftsstruktur in manchen Ballungsräumen zeigt sehr deutlich, dass Parallelgesellschaften bereits mitten in Österreich angekommen sind. Unsere freiheitlichen Warnungen seit über drei Jahrzehnten wurden ignoriert, weshalb der Anteil nicht-österreichischer Straftäter oder auch Sozialhilfeempfänger in Wien bei über 50 Prozent liegt. Eine ebenso desaströse Bilanz erleben wir im Bildungsbereich, wo allein in Wien über die Hälfte nicht-deutschsprachig aufwächst. Im bereits angeführten Wien-Favoriten haben über 70 Prozent der Schüler eine andere Umgangssprache als Deutsch. Nachdem Migrantenvereine vorrangig die Pflege ihrer eigenen Kultur und kaum eine Annäherung an die österreichische Lebensart in den Vordergrund stellen, ist die Rolle einer Vielzahl solcher Organisationen eher zu hinterfragen. Leider haben wir in Österreich auch die Situation, dass solche Organisationen oft von der öffentlichen Hand, etwa der Stadt Wien, gefördert werden und zum Teil auch dem politischen Islam zuzuordnen sind.

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Marcel Leuschner

Stabsstellenleiter Flucht & Inklusion, Diakonie de La Tour

Die Frage nach der Existenz von „Parallelgesellschaften“ ist bereits deshalb nicht einfach zu beantworten, da der Begriff je nach Definition andere Antworten erlaubt und gerade im gesellschaftspolitischen Diskurs bereits sehr aufgeladen wirkt. Die eher negativ konnotierte Formulierung scheint zu implizieren, dass es in unserem Land eine signifikant hohe Anzahl von Personen mit Migrations- oder Fluchterfahrung gibt, welche unsere Normen und Werte ablehnen.

Während ich nicht bestreiten möchte, dass es – unabhängig von deren Herkunft – sicher einzelne Personen und Milieus gibt, auf welche diese Beschreibung zutrifft, bezweifle ich hier eine größere Dimension dieser Problematik. Der häufig vorhandene Wille zur Identifikation mit und Integration in unser Werte- und Normensystem wird oftmals nur durch das faktisch mangelnde (Identitäts-)Angebot oder die persönlichen Ressourcen der Betroffenen sowie andere, wenig förderliche Rahmenbedingungen gehindert (anekdotische Evidenz).

Bemerkenswert finde ich jedoch auch, dass während wir bei der Definition und Suche nach statisch relevanten „Parallelgesellschaften“ um Trennschärfte ringen, auf der anderen Seite eine Abgrenzung zu nicht-österreichischen StaatsbürgerInnen im Fremden-, Wahl- und Sozialrecht bereits klar existiert. Diese Bestimmungen betreffen signifikante Teile der Bevölkerung in oftmals existenzieller Weise und bedeuten für diese mitunter eine tatsächliche Schlechterstellung. Mangelnde Reflexion und Solidarität in der autochthonen Gesellschaft erledigen den Rest. Es besteht ein Ungleichgewicht zwischen der latenten Forderung „Werdet wie wir, integriert euch, identifiziert euch mit uns!“ auf der einen und ungleichen Voraussetzungen und Möglichkeiten auf der anderen Seite. Konkret könnte man auf der Suche nach vermeintlichen „Parallelgesellschaften“ und deren VerursacherInnen also auch ebenso gut einige etablierte Normen unbedarft infrage stellen. Warum zum Beispiel erhalten AsylwerberInnen de facto keinen Arbeitsmarktzugang? Warum forciert die Familienzusammenführung nach dem Asylgesetz nur biologische Kernfamilienmitglieder? Warum brauchen wir eine Sozialhilfe, die fremdenrechtliche Ziele verfolgt?

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Senol Grasl-Akkilic, BA

Volkshilfe Wien

Ihre Frage suggeriert, dass es „die“ Parallelgesellschaften gibt. Die Definition von Parallelgesellschaften ist dabei nicht eindeutig und wird oft in Zusammenhang mit MigrantInnen verwendet. Klar ist, dass wir unterschiedliche Schichten und Milieus in unserer Gesellschaft haben, die parallel zueinander stehen und wenig Durchlässigkeit aufzeigen, zum Beispiel ManagerInnen und ArbeiterInnen, Rap- und Popmusik-Fans, SkaterInnen und FußballerInnen oder in anderen Feldern. Aus dieser Perspektive betrachtet, gibt es Parallelgesellschaften auch innerhalb von MigrantInnen-Communitys, die der vorangegangenen Ausführung entsprechen. Unter unterschiedlichen Ethnien, ja sogar innerhalb derselben Ethnie, gibt es Parallelitäten bis hin zu starken Konflikten. Die Aufgabe der Gesellschaft besteht darin, die gemeinsamen Nenner im Sinne eines guten Lebens für alle Menschen zu stärken. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoller, von unterschiedlichen Lebenswelten zu sprechen. Es gibt dazu differenzierte Darstellungen des Sinus-Instituts.

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Veronika Lippert

Obfrau Elternwerkstatt – Verein im Dienst von Kindern, Eltern, PädagogInnen

Durch unsere Arbeit mit Eltern aus unterschiedlichsten sozialen Schichten sowie jeglicher Herkunft und Religionszugehörigkeit haben wir die Gesellschaft betreffend einen guten Gesamtüberblick. Ja, es gibt sie, die Parallelwelten. Um hier eine Brücke zu bauen, setzen wir auf Elternbildung.

Bildung ist spürbar gemachte Erfahrung.

Beginnen wir so den/die andere(n) von Herzen zu verstehen, dann können Missverständnisse, Vorurteile, Unsicherheiten, Angst und gegenseitige Beschuldigungen keinen Platz mehr finden. Integration gelingt durch zuhören und miteinander sprechen.

Respekt in der Familie – Respekt in der Gesellschaft.

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Gottfried Waldhäusl

Landesrat Niederösterreich, FPÖ

Die Bildung von Parallelgesellschaften ist kein neues Phänomen in der österreichischen Gesellschaftsstruktur. Sie ist das Resultat jahrzehntelanger unkontrollierter Zuwanderung ohne Rücksicht auf Erhalt des österreichischen Kultur- und Werteverständnisses.

Eingewanderte Personen haben keinen Bedarf, österreichische Sitten und Bräuche zu erlernen, da sich inzwischen eine dichte und weit verbreitete Auffanggesellschaft ihres heimischen Kulturkreises gebildet hat, die jede Assimilierung in die österreichische Gesellschaft überflüssig macht.

Es braucht klare und gezielte Vorgaben, um ein friedliches und rücksichtsvolles Zusammenleben verschiedener gesellschaftlicher Gruppen untereinander zu gewährleisten. Landesrat Gottfried Waldhäusl hat hierfür soeben einen Wertekodex in Form der „10 Gebote der Zuwanderung“ erstellt. Dieser soll Menschen, die neu nach Österreich zugewandert sind, einen Leitfaden bieten, um erfolgreich und zielsicher eine selbstständige Lebensweise und dankbare Haltung gegenüber unserer Heimat zu entwickeln.

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Mag. Michael Fanizadeh

Bereichsleiter Migration, Entwicklung & Antidiskriminierung, VIDC Global Dialogue

Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Da ist es selbstverständlich, dass es unterschiedliche Lebens- und Organisationsentwürfe gibt. Ein Miteinander in Beruf und Schule sowie ein Nebeneinander in der Freizeit sind Realitäten vieler Menschen und somit auch von MigrantInnen und ihren Kindern in Österreich. Gerade Rassismuserfahrungen in Kindheit und Jugend befördern den Wunsch, sich abseits des Mainstreams zu verorten und zu treffen. Als entwicklungspolitischer Think- und Do-Tank arbeiten wir mit vielen Diaspora-Organisationen zusammen, die an der Entwicklung ihrer Herkunftsregionen Anteil nehmen. Was wir vermittelt bekommen, ist allerdings, dass es außerhalb der Moscheen wenig selbst organisierte Räume für Beratungen, Treffen, Veranstaltungen und Feste, insbesondere der „neuen“ Communitys aus Afghanistan, Syrien und Somalia, gibt. Das ist ein Problem und stärkt einerseits die religiösen Einrichtungen und schwächt andererseits den interkulturellen Dialog. Säkulare Räume von MigrantInnenorganisationen zu fördern, wäre daher eine sinnvolle Aufgabe der Politik, um die Trennung von Religion und Staat im Denken zu verankern.

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Dr.in med. vet. Helga Krismer-Huber

Abgeordnete zum Niederösterreichischen Landtag, Die Grünen

Wenige Integrationsmaßnahmen und wenig gesellschaftliche Teilhabe führen fast zwingend zu Parallelgesellschaften. So kommt diversen MigrantInnenorganisationen und -medien eine ganz bedeutende Rolle zu. Insbesondere bei jungen Menschen können Vorbilder zum Beispiel aus der Musikbranche mehr bewirken als unzählige Integrationsmaßnahmen. Nichtsdestotrotz braucht es Integrationsmaßnahmen in ausreichender Zahl und Qualität. Die Stärkung der Frau als Knotenpunkt in der Familie ist zentraler Drehpunkt in Sachen Integration. Umso geforderter ist die österreichische Gesellschaft im Ganzen in Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter, da internationale Vergleiche kein gutes Zeugnis ausstellen.

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Mag.a Dr.in Bettina Vollath

Abgeordnete zum Europäischen Parlament, SPÖ

Wenn wir keine Parallelgesellschaften wollen, brauchen wir eine inklusive Politik, die Vielfalt und Gleichberechtigung fördert.

Das Ausmaß an Interaktion zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen einer Gesellschaft und deren kollektives Gefühl für Gleichberechtigung und Akzeptanz hängen von verschiedenen Faktoren ab. Keineswegs ist eine funktionierende integrative Gesellschaft allerdings die exklusive Aufgabe von MigrantInnen oder religiösen Gruppen.

Daher zuerst die Frage: Was sind überhaupt Parallelgesellschaften? Ob sich solche bilden, ist weniger eine Frage von Migration, sondern eher eine der sozialen Herkunft, des Geschlechts und der politischen Haltung. Die entscheidende Frage ist daher, welche Gesellschaft wir eigentlich wollen. Und genau das ist letztendlich eine politische Frage, denn es ist der Politik überlassen, an den unterschiedlichen „Stellschrauben“ zu drehen, um diese oder jene Entwicklung zu ermöglichen und zu begünstigen. Daraus folgt die logische Schlussfolgerung: Wenn wir keine Parallelgesellschaften wollen, brauchen wir eine inklusive Politik, angefangen bei Bildung bis zur Sozial-, Wirtschafts- und Wohnbaupolitik.

Ein wichtiger Ort der Begegnung ist die Schule. Eine gemeinsame verschränkte Ganztagsschule für alle bis zum Ende der achten Schulstufe wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Dies würde Begegnung ermöglichen, gesellschaftliche Spaltung vermindern und das Bildungssystem durchlässiger machen.

Ein weiterer zentraler Begegnungsort ist der Arbeitsplatz. Durch ordentliche Beschäftigungsverhältnisse statt Leiharbeit und weniger Wochenarbeitszeit, dafür Arbeit für alle, könnten möglichst viele Menschen in die Arbeitswelt und damit durch die vielen dort stattfindenden Begegnungen auch in die Alltagswelt integriert werden.

Viele Organisationen von MigrantInnen tun bereits ihren Teil dazu. Nun muss von der österreichischen Politik ein starker Wille zu einer umfassenden und ehrlichen Integration ausgehen. Dazu gehört auch, ein klares Zeichen gegen die Diskriminierung von MigrantInnen im Bildungswesen, am Arbeits- und am Wohnungsmarkt sowie in der österreichischen Gesellschaft zu setzen.

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Mag.a Anita Rackaseder, MBA

Landesgeschäftsführerin ASKÖ Oberösterreich

Gerade im organisierten Sport versuchen wir gezielt, mit unseren Maßnahmen Parallelgesellschaften zu vermeiden. Unser Ansatz ist nicht ein integrativer, sondern ein inklusiver Weg, der alle Mitglieder und ihre Wünsche und Bedürfnisse respektiert und darauf eingeht. Das gemeinsame Ziel im Sportverein verbindet uns in einer Art und Weise, die nachhaltiger und effizienter nicht sein könnte.

Unsere ASKÖ-OÖ-Vereine setzen unzählige Maßnahmen, um das Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu fördern und ein Miteinander in den Vordergrund zu stellen. Inklusion passiert dabei nicht in Form von plakativem Aktionismus, sondern als Resultat aufrichtiger Toleranz und Hilfestellung durch die VereinsfunktionärInnen anderen Menschen gegenüber.

Unsere ASKÖ-Vereine sind Vorbilder, wenn es darum geht, allen Menschen, die Sport treiben wollen, eine Möglichkeit zu bieten. Sie schaffen damit auch ein Bewusstsein beim Gegenüber und bauen Vorurteile ab. Somit wirken sie der Entwicklung von Parallelgesellschaften entgegen. Unsere ASKÖ-Vereine unterstützen auf diesem Wege regional vor Ort und leisten damit einen wertvollen Beitrag für unsere Zivilgesellschaft.

Dort, wo es zusätzliche Maßnahmen braucht, um allen Personengruppen den Weg zum Sportverein zu ermöglichen, unterstützen wir unsere Vereine mit zielgruppenspezifischen Projekten wie „Sport Fair bindet“ und „Beyond Sports“ und bilden somit die Grundlage für Partizipation und Inklusion im Sportverein.

Im Sportverein sowie in der Gesellschaft kann es nur eine Gemeinschaft geben. Diese Botschaft wollen wir auch über den Sportverein hinaus transportieren und weitergeben.

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Dipl.-Päd.in Kathrin Schindele

Abgeordnete zum Niederösterreichischen Landtag, SPÖ

Laut einer Studie des Österreichischen Integrationsfonds aus dem Jahr 2020 nehmen 69 Prozent der Befragten Parallelgesellschaften in Österreich wahr und haben darüber große Sorge. Dieses Thema ist also als relevant zu betrachten. Bildung und das Erlernen der deutschen Sprache sind für die SPÖ NÖ essenziell im Kampf gegen Parallelgesellschaften.

Deswegen fordern wir schon lange ein umfassendes Integrationspaket und verlangen von der Bundesregierung, in Integrationsmaßnahmen im Bildungsbereich zu investieren.

Die Teilnahme von MigrantInnen am gesellschaftlichen Leben in Österreich spielt im Zusammenhang mit verschiedenen Integrationsmaßnahmen selbstverständlich eine wichtige Rolle. Es braucht daher einerseits das Angebot an Maßnahmen zur Integration und andererseits auch die Bereitschaft einer jeden Einzelnen und eines jeden Einzelnen, sich gesellschaftlich zu beteiligen.

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Yener Polat

Vereinsobmann MOTIF – Interkultureller Kulturverein

Parallelgesellschaften symbolisieren den Unwillen, die eigene kulturelle Blase zu öffnen. Wir denken dabei direkt an Personengruppen mit migrantischem Hintergrund und ohne Kontakte außerhalb ihrer Komfortzone. Ich möchte jedoch zu bedenken geben, dass dieser Begriff auch die Lebenswirklichkeit vieler ÖsterreicherInnen ohne Kontakte zu MigrantInnen beschreiben kann. Mit diesem Perspektivwechsel wird die gesamtgesellschaftliche Verantwortung deutlich. Die Forderung, sich in die bestehende gesellschaftliche Ordnung zu integrieren, darf nicht nur einseitig gedacht werden. Parallelgesellschaften entstehen aus einem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit. Sie wachsen und verhärten sich über Generationen hinweg. Die Gesellschaft trägt einen großen Teil der Verantwortung, Menschen in ihre Mitte zu holen.

Anstatt einer kulturellen Hierarchie, die Anpassung verlangt, ohne selbst in der eigenen Blase Platz zu schaffen, braucht es Begegnungen auf Augenhöhe. Doch Alltagsrassismus ist in jedem gesellschaftlichen Bereich vorhanden und erschwert die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund. Auf der politischen Ebene sowie in den Medien sind MigrantInnen kaum als ernstzunehmende AkteurInnen repräsentiert. Wenn Migration nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bereicherung gedacht und gelebt wird, können wir viel voneinander lernen. Eine Mehrheitsgesellschaft ist umso widerstandsfähiger, wenn Kräfte vereint werden und jede/r aktiv Potenziale einbringt. Gegenseitiges Fordern und Fördern ist essenziell für eine demokratische und inklusive Gesellschaft, die sich an gemeinsamen Werten orientiert. Der Integrationswille darf nicht an rassistischen Vorurteilen innerhalb der Gesellschaft scheitern. Frust und Unverständnis fördern nur den Rückzug in Parallelgesellschaften. Wir alle, die miteinander in Österreich leben, müssen unsere eigene Blase hinterfragen. Wenn jede/r einen Schritt aus der eigenen Parallelgesellschaft herauswagt, gewinnen wir alle.

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Dr. Werner T. Bauer

wissenschaftlicher Mitarbeiter der Österreichischen Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung

Ob es Parallelgesellschaften gibt? Man sieht die Gesellschaft vor lauter Parallelgesellschaften nicht. Nach über drei Jahrzehnten neoliberaler Verheerungen leben wir in einem Zeitalter der Parallelgesellschaften und der Partikularidentitäten, einheimischer ebenso wie migrantischer. Da gibt es die veganen Menschen und die queeren, die Klima- und die Corona-Leugner, die Verschwörungstheoretiker und die Reichsbürger, die Gutmenschen und die Wutbürger, … Und es gibt Menschen mit Migrationshintergrund, die sich – aus welchen Gründen auch immer – weigern, am gesellschaftlichen Leben ihrer „neuen Heimat“, die sie als solche nicht akzeptieren, nicht selten sogar zutiefst verachten, teilzunehmen.

Wir leben mittlerweile in einer komplett fragmentierten Gesellschaft. „There’s no such thing as society“, prophezeite die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher bereits 1987. Was dagegen zu tun wäre? In Analogie zum gegenwärtigen „Testen, testen, testen!“ ist man versucht, zu rufen: „Bildung, Bildung, Bildung!“ Aber ob das noch etwas hilft?

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Kati Schneeberger

Präsidentin Vienna goes Europe, Bezirksrätin Wien Neubau, Kinder- & Jugendbeauftragte und Europa-Gemeinderätin, Die Grünen

Wenn befragte Jugendliche mit Migrationshintergrund sich zu 75 Prozent als Teil der Gesellschaft sehen, aber nur 50 Prozent von ihnen der Meinung sind, dass sie auch von den ÖsterreicherInnen als Teil der Gesellschaft gesehen werden, dann laufen wir Gefahr, noch mehr als die bereits bestehenden 25 Prozent zu verlieren.

Der oft aus den Herkunftsländern mitgebrachte Nationalismus und Fundamentalismus kann zu Parallelgesellschaften führen, die aufgrund von Ablehnungserfahrungen durch die Mehrheitsgesellschaft noch zusätzlichen Zulauf finden. Die Hemmungen, gegeneinander vorzugehen, sinken und es kommt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen. Ziel muss es daher sein, dass sich alle Menschen in Österreich als Teil derselben Gesellschaft fühlen. Nur das kann ein friedvolles Miteinander gewährleisten.

MigrantInnen sollten sich selbstverständlicher als Teil der österreichischen Gesellschaft sehen, resilienter gegen Ausgrenzung durch einen Teil der ÖsterreicherInnen werden und sich nicht in Parallelgesellschaften zurückziehen. Dazu sind allerdings auch die ÖsterreicherInnen gefordert. Integration ist eine Herausforderung für beide Seiten, sowohl für die Aufnahmegesellschaft als auch für MigrantInnen. Nur so kann eine gemeinsame Gesellschaft funktionieren.

Einen positiven Beitrag dazu leisten persönliche Begegnungen, die sowohl von MigrantInnenorganisationen als auch vonseiten der ÖsterreicherInnen aktiv ermöglicht und gefördert werden. Sie helfen, Ängste vor dem Fremden abzubauen und Einstellungsänderungen zu bewirken.

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Dipl. Ing. Peter Mlczoch

Obmann Grenzenlos St. Andrä-Wördern

Gibt es bei uns Parallelgesellschaften und was bedeutet das? Ja, es gibt sie, aber das ist an sich noch kein Problem.

Das Ziel gesellschaftlicher Entwicklung kann ja kein Einheitsbrei sein. Kulturelle Vielfalt ist bereichernd und Integration bedeutet nicht Assimilation.

Versteht man unter Parallelgesellschaft nämlich das Leben in seiner sprachlichen und ethnischen Community, ist das nicht verwerflich, sondern durchaus zu nachvollziehbar: Wir alle sind unseren Familien und Wurzeln verbunden, die einen mehr, die anderen weniger. Umso mehr natürlich, wenn wir die Sprache des Landes (Deutsch) eher schlecht verstehen; denn wir wollen ja verstanden werden, was in der eigenen Sprache und Kultur gewiss leichter ist.

Problematisch werden Parallelgesellschaften dann, wenn ihre Regeln und Wertvorstellungen den (menschen)rechtlichen Standards in Österreich zuwiderlaufen und diese daher als weniger wichtig als der eigene, traditionelle Referenzrahmen angesehen werden.

Zwangsheirat, (Blut-)Rache oder gar Ehrenmorde sind selbstverständlich nicht tolerierbar und strafrechtlich zu verfolgen. Hier haben auch die jeweiligen Vereine und Religionsgemeinschaften deutlich Stellung zu nehmen und in ihren Communitys derartige Praktiken zu verurteilen. Schwieriger ist es, frauenfeindliche und patriarchale Traditionen, Rassismus und Antisemitismus zu überwinden – und zwar in allen gesellschaftlichen Gruppierungen, denn einen konservativen Trend gibt es auch in der Mehrheitsgesellschaft. Hier ist die Zivilgesellschaft in all ihren Teilgesellschaften gefordert, dagegen anzutreten.

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Nikodemus Ludwiński

Redakteur, Austriapol – Magazin für interkulturellen Dialog

Definition wichtig!

Wird über Parallelgesellschaften gesprochen, denkt man an Migration und gescheiterte Integrationspolitik. Dass Parallelgesellschaften nicht nur Sache unterschiedlicher Ethnien sind, sondern durchaus auch politischer und/oder moralischer Meinungsunterschiede sein können, ist weniger bekannt. Eine feststehende Definition würde dahingehend Klarheit schaffen.

Nichtsdestotrotz beziehen sich die folgenden Punkte auf migrationsbedingte Parallelgesellschaften.

Warum verhindern?

Eine gesunde Gesellschaft zieht an einem Strang. Wenn es darum geht, Probleme zu lösen, strebt die Gesellschaft im Idealfall nach einem positiven Resultat für alle. Bei der Entstehung einer Parallelgesellschaft kann es zu Interessenkonflikten und zur Behinderung einer gemeinsamen Problemlösung kommen.

Wie verhindern?

Sorgt man für eine sozial vielfältigere Wohnumgebung, wird die räumliche Abgrenzung von Parallelgesellschaften vermieden.

Eine wichtige Rolle dabei spielen die MigrantInnenmedien und MigrantInnenorganisationen. Diese könnten mit einer größeren Reichweite beiden Seiten, den MigrantInnen und den InländerInnen, die jeweils andere Kultur durch Veranstaltungen näherbringen. Es sollte versucht werden, beide Lager füreinander zu begeistern, indem die Gemeinsamkeiten hervorgehoben und die kulturellen Errungenschaften geschätzt werden. Auf diese Weise wird der Weg für Respekt, Wertschätzung und Toleranz geebnet.

Anmerkung

Es sollte erwähnt werden, dass sich der Aufwand und die Schwierigkeit der Integration mit der Anzahl der Unterschiede zur Mehrheitsgemeinschaft erhöhen. Somit ist die Integration muslimischer MigrantInnen aus nicht-europäischen Staaten schwieriger als im Vergleich zu europäischen MigrantInnen. Kulturgruppen, Sprachfamilien, Religionen und Werte haben großen Einfluss auf die Denkweise des Menschen und spielen somit eine größere Rolle als kommuniziert.

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Mag.a Aygül Berivan Aslan

Abgeordnete zum Wiener Landtag und Gemeinderat, Integrationssprecherin Grüner Rathausklub

Es gibt keine Parallelgesellschaften. Angelehnt an Kenan Güngörs Vortrag beim Integrationsgipfel: Schon das Wort ist irreführend. Würde es tatsächlich Parallelgesellschaften geben, gäbe es somit eine zweite/dritte/vierte Verwaltung, Rechtssprechung und Staatsgewalt neben bzw. innerhalb der bereits bestehenden. Das ist nicht der Fall.

Zweitens aber hat das Wort „Parallelgesellschaft“ einen explosiven Faktor. Wer von „Parallelgesellschaften“ spricht, spricht damit gleichzeitig von einer Spaltung der Gesellschaft. Hier wird vermittelt, dass eine Gruppe von Menschen nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehört. Der Begriff „Parallelgesellschaft“ steht in diesem Kontext als Synonym für „Problem“. Wenn wir also einen destruktiven Diskurs über imaginierte Parallelgesellschaften führen, wird eine Personengruppe an den Rand gedrängt und zum allgemeinen Problem erklärt, anstatt diese Energie für positive Anreize zu einem gelungenen Zusammenleben zu nutzen.

Menschen mit Migrations- und Fluchtbiografie sind keine homogene Gruppe, sondern unterschiedlichen Gruppierungen zugetan. Anstatt also von „Parallelgesellschaften“ zu sprechen, sollten vorhandene Problemlagen angesprochen werden – ohne pauschal zu verurteilen. Es braucht nachhaltige und lösungsorientierte Maßnahmen seitens der politischen Verantwortlichen und der betroffenen Einrichtungen, um eine gelungene Integrationspolitik zu ermöglichen. Die weltanschauliche Toleranz kann durch eine gestärkte Mädchen- und Frauen- sowie Buben- und Männerarbeit gewährleistet werden.

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PH.D.in Sabine Bauer-Amin

wissenschaftliche Mitarbeiterin  Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW)

Wenn man von „Parallelgesellschaften“ spricht, wird meist von homogenen Gesellschaftsgruppen ausgegangen, die sich räumlich, sozial und kulturell vom Rest der Gesellschaft abschotten. Eine derartige Isolation und dadurch die Entstehung paralleler Strukturen kann sich jedoch kaum jemand leisten. Empirisch gesehen gibt es diese parallelen Strukturen tatsächlich nur in sogenannten „Gated Communities“ sehr reicher Bevölkerungsschichten, etwa in den USA. Was es jedoch sehr wohl gibt, sind Faktoren, die es bestimmten Gruppen erschweren, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, da sie strukturelle, sprachliche, soziale oder wirtschaftliche Barrieren vorfinden.

Durch diese Marginalisierung müssen sie alternative Strukturen bilden, zu denen sie einen leichteren Zugang haben (z.B. einen eigenen Wohnungsmarkt, Jobmarkt etc.) und die wiederum ebenfalls Elemente der Segregation beinhalten können. Die Entstehung solcher alternativer Strukturen sind aber nicht auf die ethnoreligiöse Zugehörigkeiten zurückzuführen, sondern ist eine oft notwendige Reaktion auf Ausgrenzung und Marginalisierung. Diese gesellschaftlichen Ungleichgewichte stehen aber der Chancengleichheit im Weg und verhindern soziale Gerechtigkeit. MigrantInnenorganisationen spielen hier eine wesentliche Rolle, da sie gesellschaftliche Ressourcen zur Verfügung stellen können, um gemeinsam Lösungen für diese Marginalisierungen zu finden.

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Rasha Corti

Fremdenführerin, Übersetzerin, Journalistin und Mitglied des Expertenrates für Integration  

Dialog statt Monolog

Das Konzept der Parallelgesellschaft sollte präzise und zurückhaltend verwendet werden. Ich stelle fest, dass der Begriff der Parallelgesellschaft häufig verwendet wird, um Menschen, die nicht dem österreichischen Mainstream entsprechen, zu diskriminieren. Statt die Pluralität der modernen Gesellschaft zu akzeptieren, werden Menschen, die eine andere Hautfarbe, Religion, Sprache oder kulturellen Hintergrund haben, ausgegrenzt. Zu Hause nicht Deutsch zu sprechen, an traditionellen Feiertagen nicht teilzunehmen oder andere kulturelle Präferenzen zu haben, darf nicht bedeuten, dass man kein Teil der österreichischen Gesellschaft sein kann.

Es ist wichtig, dass die Mehrheitskultur den Minderheitskulturen gegenüber Respekt, Offenheit und Solidarität zeigt. Nur so ist eine erfolgreiche Integration möglich. Das bedeutet nicht, dass man religiösen oder politischen Extremismus duldet, den es in jeder Gesellschaft in irgendeiner Form gibt. Solchen Gruppen gegenüber müssen die staatlichen Behörden eine klare und effektive Linie vertreten. Allerdings sollte nicht eine ganze Minderheitsgruppe als Parallelgesellschaft stigmatisiert werden.

Gesellschaftliche Pluralität ist ein wesentlicher Aspekt der Globalisierung. Sie sollte nicht als Bedrohung für die eigene Identität, sondern als Chance, als kulturelle Bereicherung, als Grundlage für wirtschaftliche und soziale Innovation wahrgenommen werden. Vielfalt erweitert die Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten einer Gesellschaft. Integration ist somit keine Einbahnstraße. Um aber das Potenzial der Minderheitsgruppen auszuschöpfen, müssen sie in die Verantwortung genommen werden. Es sollten Anreize geschaffen werden, damit sie ihre Talente entfalten, sich selbst engagieren und nicht einfach auf staatliche Leistungen warten.

Eine effektive Integrationspolitik setzt voraus, dass man Migranten fördert und fordert. Das bedeutet aber auch, dass wir vermehrt mit ihnen und nicht nur über sie sprechen, d.h. wir den Monolog durch einen Dialog ersetzen. Gefragt ist eine Kommunikation mit Migranten auf Augenhöhe. Ein solcher Ansatz ist die beste Prävention von sogenannten Parallelgesellschaften.

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Christoph Wiederkehr, MA

Vizebürgermeister Wien, Stadtrat für Bildung, Jugend, Integration und Transparenz, NEOS

Als Vizebürgermeister dieser Stadt ist es meine Aufgabe, die Vielfalt der Bevölkerung zu wahren, jedoch vor Problemen nicht die Augen zu verschließen und mit ehrlichen Lösungen ein gutes Zusammenleben zu sichern. Es gibt Wienerinnern und Wiener, die im Inland, Ausland oder einem anderen Bundesland geboren sind, die mehrere Sprachen beherrschen, die religiös oder nicht religiös sind, die in einem Mehrgenerationenhaushalt oder alleine leben, die eine Familie haben, die Single, verheiratet, geschieden oder verpartnert sind. All das zeigt, wie unterschiedlich Lebenskonzepte, denen unterschiedliche Wertevorstellungen zugrunde liegen, sein können. Doch es ist ebendiese Vielfalt, die die Wienerinnen und Wiener ausmacht. Der Begriff der Parallelgesellschaften würde diesen Unterschieden, aber auch den vielen Gemeinsamkeiten nicht gerecht werden.

Dennoch ist es nicht einfach, die diversen Bedürfnisse und Anliegen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Um die gesellschaftliche Debatte über Integration konstruktiv zu gestalten, braucht es klar definierte Grundhaltungen und eine aktive Politik. Unsere Werte der liberalen Demokratie, des säkularen Rechtsstaats, der Gleichberechtigung und des Respekts gegenüber jedem Einzelnen sind nicht verhandelbar. Der Wille zur Integration muss aber auf allen Seiten vorhanden sein: Wien als Stadt muss es Menschen ermöglich, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Zugezogene müssen jedoch auch dazu bereit sein, diesen Schritt zu machen. Die Möglichkeit der Teilhabe und Teilnahme aller Bevölkerungsgruppen an allen Lebensbereichen dieser Stadt ist dabei ein Grundprinzip unserer Wiener Integrationspolitik.

Wahid Tamim

Wahid Tamim

MigrantInnenbeirat Graz

Die Frage, ob es in Österreich Parallelgesellschaften gibt, steht zur Diskussion. Im allgemeinen Sinne beschreibt der Begriff „Parallelgesellschaft“ laut Duden eine „Gesellschaft, die von einer Minderheit gebildet wird und in einem Land neben der Gesellschaft der Mehrheit existiert“. Die Annahme, dass MigrantInnen ihre eigenen parallelen Strukturen haben und sich somit von der Mehrheitsgesellschaft isolieren, ist meiner Meinung nach übertrieben und mit wenigen Ausnahmen nicht realistisch. MigrantInnen organisieren sich häufig in Vereinen, um u.a. ihre Religion auszuüben und ihren sozialen und kulturellen Lebensstil zu pflegen. Diese Aktivitäten sind meines Erachtens nach keineswegs mit einer Parallelgesellschaft gleichzusetzen, sondern Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses, seine Freizeit mit Gleichgesinnten zu verbringen.

Ich wage jedoch, zu sagen, dass das, was in Österreich als „Parallelgesellschaften“ bezeichnet wird, durch die soziale und ökonomische Ungleichheit in der Gesellschaft geschaffen wird. Diese Benachteiligungen führen dazu, dass Menschen, u.a. MigrantInnen, sehr häufig in einkommensschwachen Berufen beschäftigt sind, in bestimmten Stadtbezirken konzentriert wohnen und ihre Kinder überproportional bestimme Schulen besuchen. Die daraus resultierenden sozialen Milieus werden nur bedingt durch MigrantInnen verursacht, sondern vor allem durch ihre Lebensumstände. Der Bildung von „Parallelgesellschaften“ kann vorgebeugt werden, indem die Aufnahmegesellschaft die notwendigen Rahmenbedingungen schafft, wie Chancengerechtigkeit und Teilhabechancen in allen Bereichen. In dieser Hinsicht können MigrantInnen- und Medienorganisationen in Zusammenarbeit mit den politisch Verantwortlichen Maßnahmen ergreifen, um eine chancengerechte Gesellschaft zu gewährleisten. Dazu gehören Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung jeglicher Form sowie die Aufklärung und Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit, um die gesellschaftliche Vielfalt und ein friedliches Zusammenleben zu fördern.

Kürmayr

Mag.a DSA Esther Maria Kürmayr

Leiterin Schwarze Frauen Community

Überall dort, wo sich Gesellschaften als wenig divers definieren, besteht die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften bilden.

Warum werden dann nicht das Schaffen einer gemeinsamen österreichischen Identität und die Botschaft „Wir alle sind Österreich“ ins Zentrum politischen und zivilgesellschaftlichen Handelns gerückt? Was hindert die Mehrheitsgesellschaft daran, Minderheiten zu inkludieren?

Inklusion bedeutet, dass alle Zugang zu den Ressourcen haben, partizipieren und mitverantworten. Darin scheint die große Herausforderung zu liegen. Es braucht die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, sich ihrer Privilegien aufgrund der Hautfarbe, Religion, Staatsbürgerschaft etc. bewusst zu werden, und die Auflösung derselben.

In der Folge ist es nötig, zu erkennen, dass jeder Mensch nur aus einer positiven Selbst- und Fremdwahrnehmung heraus sein volles Potenzial entfalten und dieses in die österreichische Gesellschaft einbringen kann – und dass das nur möglich ist, wenn Menschen sich nicht für ihre Existenz in Österreich rechtfertigen müssen, sobald sie nicht weiß sind oder ein Kopftuch tragen.

Zudem müssen wir dazu bereit sein, unsere Institutionen zu durchsuchen: Wer bekommt was? Warum? Und wer bekommt eben nichts? Wie werden Stellen besetzt? Warum? Wem vermieten wir Wohnraum? Wie betrachten wir SchülerInnen und deren Leistungen sowie KlientInnen und Mitmenschen, die sehr anders als wir aussehen, glauben oder sprechen? Die Antworten auf diese Fragen spiegeln unsere Organisationsstruktur und die Vergabe von Ressourcen unserer Gesellschaft wider und werden noch eine entscheidende Rolle spielen.

In der Zivilgesellschaft und auf individueller Ebene müssen wir darüber hinaus beobachten, wie sich unser Denken, unsere Sprache und unser Handeln gegenüber anderen gestaltet und welche Reaktionen sie hervorrufen.

MigrantInnenorganisationen und -medien haben die Aufgabe, zum einen einen Safe Space für ihre Mitglieder zu bieten, zum anderen eine Brücke zur österreichischen Mehrheitsgesellschaft zu bilden.

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Rechtsassessorin Marian Benbow Pfisterer

Leiterin des Landesbüros für Österreich der Internationalen Organisation für Migration

Gesellschaftliche Teilhabe und soziale Kohäsion stärken

In der Frage, wie der Bildung von Parallelgesellschaften und Segregation vorgebeugt werden kann, sollte der Blick auf Teilhabe und Inklusion von MigrantInnen sowie soziale Kohäsion gerichtet werden. Gelingen diese nicht, zeigen sich bei MigrantInnen unter anderem niedrigere Bildungs- und Gesundheitsergebnisse. Sie sind stärker von Arbeitslosigkeit und schlechten Arbeitsbedingungen betroffen und sie erfahren oft Diskriminierung, die wiederum ihren Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt oder anderen Basisdienstleistungen verstärkt einschränkt.

Um Segregation vorzubeugen, muss die zivile und politische Partizipation von MigrantInnen ebenso ermöglicht werden wie ihre soziale und ökonomische Inklusion. Ferner braucht es ein entschiedenes Vorgehen gegen Diskriminierung und Xenophobie sowie die Förderung des gegenseitigen Verständnisses. Maßnahmen zur Förderung der sozialen Kohäsion, wie etwa die Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft, sind notwendig. Inklusion und soziale Kohäsion müssen daher verstärkt als Teil eines wechselseitigen Integrationsprozesses angesehen werden, mit dem gemeinsame Verantwortlichkeiten für alle Beteiligten einhergehen. Dabei ist ein „Whole of Community”-Ansatz zentral, der unter anderem die Miteinbeziehung von MigrantInnenorganisationen voraussetzt. Sie nehmen eine Brückenfunktion ein und können etwa, wenn sie konsolidiert werden, die politische Partizipation von MigrantInnen und deren Präsenz in der öffentlichen Debatte über u.a. Migration verstärken. So können das Zugehörigkeitsgefühl und das gegenseitige Verständnis verbessert werden.

MigrantInnenorganisationen nehmen dadurch eine wichtige Funktion bei der Ermöglichung von Teilhabe, Inklusion und sozialer Kohäsion ein. Ihnen sollte ferner eine zentrale Rolle auf allen Ebenen – lokal, regional und national – sowie in allen Bereichen wie Bildung, Arbeit, Soziales oder Politik beigemessen werden, denn ihr Fehlen verstärkt Vulnerabilitäten und Exklusion.

Copyright: Jolly Schwarz - https://www.facebook.com/JollySchwarzPhotography

Ayten Pacariz

Geschäftsführerin und operative Leiterin, Verein NACHBARINNEN in Wien

Es gibt zum Teil Parallelgesellschaften in Österreich. Wenn sich Menschen nicht wohlfühlen, suchen sie den Weg zu ihresgleichen. Dort werden sie nicht diskriminiert oder schief angesehen. Bevor es dazu kommt, kann der Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe aktiviert werden – mit vielen Möglichkeiten der Teilhabe mit und ohne Deutschkenntnissen. Man sollte auch Jugendliche aus sogenannten „Gastarbeiterfamilien“ dazu befragen, welche Meinung sie haben, was sie mögen und was ihnen in ihren Lebenswelten wichtig ist. Ohne gemeinsame Kommunikation können wir nicht wissen, was sich ändern soll. Es hilft auch nicht, wenn man die Werte des Gegenübers nicht respektiert und toleriert.

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Sandra Ivkic

Gesamtleitung Integrationsmaßnahmen ÖIF – Österreichischer Integrationsfonds

Parallelgesellschaften sind ein Phänomen vieler europäischer Großstädte, bezeichnet durch die Segregation einzelner Gruppen. Die Frage parallelgesellschaftlicher Strukturen wird auch in Österreich kontroversiell diskutiert. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass eine beginnende Abschottung einzelner Gruppen festzustellen ist. Laut der Studie „Soziale Brennpunkte im Kontext von Migration und Integration“ des Sozialwissenschaftlers Rudolf Bretschneider nehmen in Österreich sieben von zehn Personen die Existenz von Parallelgesellschaften wahr. Etwa drei Viertel denken, dass es sich bei den türkisch-kurdischen Ausschreitungen im Sommer 2020 in Wien-Favoriten um einen importierten Konflikt gehandelt hat. Und wiederum 70 Prozent sehen dadurch negative Folgen für das Zusammenleben.

ExpertInnen sehen angesichts der Anzeichen von Parallelgesellschaften die Integration und den sozialen Zusammenhalt in Gefahr: Die Abschottung einzelner MigrantInnengruppen wirkt der Integration von ZuwanderInnen entgegen und hemmt eine gleichberechtigte soziale und wirtschaftliche Teilhabe an der Gesellschaft. Hierbei gilt: Je stärker einzelne MigrantInnengruppen eine Gruppenidentität außerhalb der Gesamtgesellschaft suchen, desto schwieriger ist die Integration in die Gesamtgesellschaft. Je besser jedoch Integration als zweiseitiger Prozess in Österreich gelingt, desto besser wird auch der Zusammenhalt zwischen der Bevölkerung mit und jener ohne Migrationshintergrund sein.

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DSA.in Saira Pilaković, MA

Volkshilfe Wien, Fachbereichsleitung Integration und Interkulturarbeit

Um eine optimale Persönlichkeitsentfaltung erreichen zu können, benötigen menschliche Lebewesen in erster Linie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, ihrem „Rudel“. Sich zugehörig zu fühlen, bedeutet auch, an allen Ebenen der Existenz einer bestimmten Gruppe teilzuhaben. „Österreich – weitergedacht“ bedeutet für mich die optimale Entfaltung aller Lebewesen, die auf dem Territorium Österreichs leben und gerne leben möchten. Eine Inklusion potenzialer und/oder aller Gesellschaftsmitglieder kann nur in den Interessen einer Weiterentwicklung des Landes sein, aber ebenso des Kontinents. Es braucht dringlich ein Verständnis einer übernationalen Identität.

Um die gesellschaftliche Teilhabe strukturell und sozioökonomisch benachteiligter Menschen als ein Instrument der gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu implementieren, empfehle ich der Bundesregierung, die Rahmenbedingungen der Inklusionsmöglichkeiten als gesetzlichen Anspruch zu definieren und institutionell zu verankern.

Menschen mit Migrationserfahrung sollen in ihrer Art wahrgenommen, wertgeschätzt und eingesetzt werden. Daher gehören die Rahmenbedingungen der Inklusionsmöglichkeiten kultursensibel definiert. Alle Menschen müssen gleichberechtigt leben können – egal, wie unterschiedlich sie sind.

Es braucht nicht den „Anderen“, damit wir wir sind!

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MR Mag. Michael Girardi

Bundeskanzleramt Österreich, Sektion Integration, Kultusamt und Volksgruppen, Abteilung II/1 – Grundsatzangelegenheiten Integration

Parallelgesellschaften in Österreich? Parallelgesellschaften wirken sich negativ auf das gesellschaftliche Zusammenleben aus und können die demokratische Grundordnung und den sozialen Frieden bedrohen. Die entsprechenden Strukturen dazu entstehen allerdings nicht über Nacht. Ihnen zugrunde liegen segregierte Milieus, in denen das Zugehörigkeitsgefühl zum Aufnahmeland sowie die Identität von Zugewanderten spannungsgeladen sind. In diesen abgeschotteten Milieus werden teilweise Normen und Werte vertreten, die den Verfassungsprinzipien der Aufnahmeländer widersprechen. Extremistische Bewegungen im In- und Ausland machen sich solche Strukturen als fruchtbaren Nährboden für ihre integrationsfeindlichen Ideologien zunutze.

Auch Österreich ist vor parallelgesellschaftlichen Strukturen, wie wir sie aus anderen europäischen Ländern kennen, nicht gefeit. Konsequenterweise sind Maßnahmen gegen Parallelgesellschaften deshalb auch im aktuellen Regierungsprogramm vorgesehen und bilden einen Schwerpunkt der österreichischen Integrationspolitik.

Ausschreitungen wie zuletzt wiederholt in Wien-Favoriten führen vor Augen, dass wir in Österreich parallelgesellschaftlichen Strukturen resolut entgegentreten müssen. Als Reaktion auf diese ideologisch getriebene Gewalteskalation wurde im Sommer 2020 ein Fünf-Punkte-Plan gegen Parallelgesellschaften vorgestellt. Mit der Etablierung des Österreichischen Fonds zur Dokumentation von religiös motiviertem politischen Extremismus (Dokumentationsstelle Politischer Islam) wurde die zentrale Maßnahme des Fünf-Punkte-Plans im Herbst 2020 umgesetzt. Österreich nimmt mit diesem Leuchtturmprojekt im Kampf gegen problematische Ideologien und Parallelgesellschaften international eine Vorreiterrolle ein.

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Dr.in Caroline Niknafs

Flucht, Migration, Zusammenhalt, Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen

Nach meinem Dafürhalten gibt es in Wien keine Parallelgesellschaften. Randgruppen leider schon.

Das Wort „Parallelgesellschaften“ bezeichnet im öffentlichen Diskurs Gruppen, die mit dem Rest der Gesellschaft keine Berührungspunkte haben oder dieser gar feindlich gegenüberstehen. Wenn wir davon ausgehen, dass es mitten in der Gesellschaft (nicht nur in ihrer Mitte) für jeden Menschen sehr viel Gutes zu holen gäbe – Bildung, Arbeit, Gesundheit, Kultur, Zugehörigkeitsgefühl uvm. –, dann wird offensichtlich, dass niemand freiwillig auf all das verzichtet, sondern Menschen sich vielmehr gezwungenermaßen am Rand einrichten. Das gilt beispielsweise in hohem Maß für Menschen, die geflüchtet sind und ihr Dasein weitgehend unbeachtet von der Mehrheit am Rande der Gesellschaft unter schwierigsten Bedingungen fristen.

Wer hat schon Ahnung von ihrem Leben? Ist es nicht zynisch, den Ärmsten ihre Lage vorzuwerfen? Für andere Minderheiten stellt sich die gleiche Frage, unabhängig vom Ausmaß der Ausgrenzung.

Der Begriff „Parallelgesellschaft“ ist auch deshalb problematisch, weil er ein Nebeneinander völlig frei von Berührungspunkten suggeriert, das ich in Wien absolut nicht sehen kann. Dafür gibt es zu viele gemeinsame Orte und gemeinsam genutzte Angebote, vom Spielplatz bis zum Schwimmbad, von öffentlichen Schulen über Bildungsangebote und von der Arbeit bis zum gemeinsamen öffentlichen Essen und Feiern.

Für die Behauptung einer Parallelgesellschaft sind also der soziale Friede und der Konsens viel zu groß. Das sage ich bei ausreichend Kontakt zu problematischen Typen und Ansichten. Ausfälle von Einzelnen oder Gruppen wie jene zu Silvester sind in Wien derart selten und überschaubar, dass man für eine Großstadt mehr als dankbar sein muss.

Der Begriff „Parallelgesellschaft“ drückt aus, dass nebeneinander zu leben an sich problematisch sei. Das mag manch eine/r schon für Lebensgemeinschaften bezweifeln, für gesellschaftliche Gruppen tue ich das sicherlich: In einer pluralistischen Gesellschaft wie der Wiener ist positiv zu bewerten, dass es so viel Gemeinsames und so wenig Gegeneinander gibt, dass so viele Gruppen und Lebensstile parallel – nebeneinander und in Sichtweite – existieren. Dass uns das bestehende Gemeinsame nicht ausreicht, halte ich für den Würgegriff unseres hochproblematischen Erbes, der sich auch in der Fixierung auf Abstammung und Religion sowie einem schwammigen Kulturbegriff zeigt.

Diese Fixierung führt auch dazu, dass wir die Kinder der „Anderen“ nicht als Kinder dieser Gesellschaft betrachten. Wir stellen ihnen nicht die gleichen Chancen zur Verfügung (gut belegt) und schützen sie nicht vor ihren Eltern (zu wenig beachtet), weil wir deren Leben als parallel wahrnehmen und uns für nicht zuständig erklären. Wer also noch mehr Konsens will, die/der möge sicherstellen, dass jedes Kind vor Erwachsenen inklusive seiner Eltern – z.B. vor Indoktrination – geschützt wird und im Gegenteil ein großes Spektrum von Lebensweisen und Haltungen früh und lange kennenlernt – damit sie in allen Bereichen, die unsere Demokratie und Pluralität und unseren Humanismus repräsentieren, so aufgenommen und gestärkt werden, dass sie eine wahrhafte Wahl zwischen dem Lebensentwurf ihrer Herkunftsfamilie und vielen anderen haben.

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Dipl. Soz. Wiss. Kenan Dogan Güngör

Leiter think.difference

Keine Gesellschaften, sondern Milieus!

Entlang des Begriffs „Parallelgesellschaften“ ist eine gesellschaftspolitische Debatte entbrannt. Dieser Begriff impliziert, dass es parallel zur Gesamtgesellschaft auf der Meso- oder der Mikroebene mehr oder minder stark abgeschottete, die Aufnahmegesellschaft ablehnende, meist unterschichtete MigrantInnengesellschaften gibt, die ihre eigene wirtschaftliche, bildungsbezogene, soziale und kulturelle Infrastruktur haben. Doch der Begriff Parallelgesellschaft und die damit erzeugten Bilder und Emotionen verzerren die Realität. Tatsächlich handelt es sich nämlich um Milieus bzw. um Gemeinschaften und nicht um „parallele Gesellschaften“. Denn dies würde eine fast gleichrangige Verdopplung der Gesellschaft bedeuten, was alleine aufgrund der demografischen Größenordnungen unmöglich ist.

Eine Gesellschaft zeichnet sich zudem auf der institutionellen Ebene durch ein eigenes Wirtschafts-, Bildungs- und Rechtssystem etc. aus, was so nicht vorliegt. Die meisten Zugewanderten arbeiten eben nicht in einer eigenen MigrantInnenökonmie und gehen auf keine ethno-religiösen Schulen.

Leben wir denn nicht alle in Bubbles? Wo ist das Problem?

Die Ansicht, die Aufnahmegesellschaft sei homogen und jegliche Formen von MigrantInnenmilieus würden bedrohliche Manifestationen darstellen, birgt eine weitere Gefahr. Es wird dabei nämlich übersehen, dass wir in einer stark ausdifferenzierten, pluralisierten Gesellschaft leben. Unsere gesamte Gesellschaft besteht aus unterschiedlichen sozialen Milieus, wobei jeder gerne in seiner eigenen Bubble lebt. Deshalb ist die Existenz von migrantischen Bubbles per se nicht das Problem. Der Fokus sollte viel eher auf der Unterscheidung zwischen problematischen und unproblematischen Milieus liegen. Dies erfordert einen genauen Blick auf die sozioökonomischen, kulturellen, emotionalen sowie weltanschaulichen Strukturen und Ordnungen in diesen Milieus. Hochproblematische Milieus und Strömungen wie z.B. ultranationalistische oder rechtsextreme Gruppen innerhalb der autochthonen und zugewanderten Bevölkerung werden so deutlich erkennbar.

In Bezug auf die Migrationsbevölkerung müsste zwischen integrationsfördernden, -neutralen und -hindernden Strukturen sowie Potenzialen innerhalb der MigrantInnenmilieus differenziert werden. Der soziologische Blick zeigt, dass Milieus per se nicht als desintegrativ oder integrativ bezeichnet werden können, sondern sie weisen unterschiedlich starke integrative bzw. desintegrative Potenziale auf unterschiedlichen Ebenen auf.

Am Beispiel der Debatte um Favoriten zeigt sich das Resultat der einseitigen und dramatisierenden Stigmatisierung eines ganzen Bezirks, welche die aufstiegsorientierten, autochthonen wie migrantischen Bildungs- und Mittelschichten eher zum Wegziehen veranlasst. Dadurch wird einer weiteren unterschichteten Homogenisierung Vorschub geleistet und gewollt oder ungewollt eine „Parallelgesellschaft“ gefördert.