Die Rolle der Religionsgemeinschaften im Integrationsprozess
Welche Rolle spielen Religionsgemeinschaften für die Integration und Partizipation
in der österreichischen Gesellschaft? Wie wird Identität in einer pluralistischen Gesellschaft definiert und welcher
Stellenwert wird dabei Religion zugeschrieben?
Elke Kahr (KPÖ)
Bürgermeisterin von Graz
In einer pluralistischen Gesellschaft nach meinem Verständnis ist die Religion Privatsache. Sie darf nicht zur politischen Instrumentalisierung missbraucht werden. Beispiele dafür, wo das – mit den denkbar schrecklichsten Folgen für Millionen von Menschen geschehen ist, gibt es in unserer Geschichte zur Genüge. Natürlich können Religionsgemeinschaften für viele Halt bedeuten und Menschen gerade in der Fremde ein Stück Geborgenheit im Vertrauten zurückgeben. Für tiefgläubige Menschen ist Religion ein Teil ihrer Identität und kann nicht getrennt von ihrem Verständnis der Welt und ihrer Rolle darin gesehen werden. Das Gebet hilft vielen, mit schwierigen Situationen zurechtzukommen.
Gegenseitige Unterstützung stärkt. Doch in dem Moment, in dem Religion sich über Ab- und Ausgrenzung definiert, wird sie zu einer Gefahr für eine pluralistische Gesellschaft. Eine Betonung des Trennenden über das Vehikel der Religion anstatt einer Konzentration auf das Gemeinsame ist Gift für eine funktionierende Gesellschaft. Alle, die im Dienst einer Religion tätig sind, sollten sich hier ihrer Verantwortung bewusst sein und derartige Tendenzen im Keim ersticken.
Dr. Peter Kaiser (SPÖ)
Landeshauptmann von Kärnten
Die meisten mir bekannten Studien der vergangenen Jahre setzen die Bedeutung der Religion für gelungene Integration eher gering an: Zum einen gebe es keine belastbaren Belege dafür, dass die Religion oder die Religiosität von Migranten deren Teilhabe an Bildung oder am Arbeitsmarkt grundsätzlich erschwere. Zum anderen ließen sich die Unterschiede, die es bei der Integration verschiedener religiöser Gruppen gibt, nicht ausschließlich auf die Religionszugehörigkeit zurückführen – religiöser Pluralismus gefährde also den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht generell. Entscheidend für eine erfolgreiche Integration in der Schule und am Arbeitsmarkt sei der soziale Hintergrund, was wiederum Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen sowie Integrationsprogrammen bis hin zu Sport- und Kulturvereinen eine entscheidende Rolle zuweist. Das spiegelt sich auch in einer Studie des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) vom August 2021 wider: Zentrale Merkmale einer gelungenen Integration sind aus Sicht der ÖsterreicherInnen die Kenntnis und Anerkennung der Gesetze, die Beherrschung der deutschen Sprache, einer Arbeit nachzugehen, die österreichischen Werte zu kennen und zu akzeptieren sowie Freundschaften zu Einheimischen zu pflegen. Dementsprechend finden sich unter den Vorschlägen für eine bessere Integration an vorderster Stelle der Ausbau berufsspezifischer Sprachkurse, die Intensivierung der Ausbildungen in Mangelberufen und die Einbindung der Eltern in die Bildung ihrer Kinder.
Die elementare Frage „Wer bin ich?“ hat die Menschen seit jeher beschäftigt und je nach Epoche die unterschiedlichsten Antworten provoziert. Augenscheinlich neigt man im Zeitalter der Globalisierung zu der Ansicht, dass Stände und Klassen, ja selbst Schichten obsolet geworden sind. Man bewegt sich in sozialen Milieus, innerhalb einer globalen, vernetzten Weltgesellschaft. Wir sehen uns mit einem regelrechten Überangebot an ökonomischen, politischen, kulturellen, ethnischen und religiösen Lebens- und Gesellschaftsformen konfrontiert, die allesamt mit eigenen Normen- und Wertesystemen ausgestattet sind. Es finden sich so viele Möglichkeiten für den Einzelnen, dass es immer schwieriger wird, die eigenen, ganz persönlichen Bezugspunkte auszumachen und sich selbst in dieser Vielfalt zu definieren. Vielleicht lassen sich der Stellenwert und die gesellschaftliche Relevanz von Religionen daran messen, als wie „pluralismusfähig“ sie sich selbst erweisen und dadurch dem Erstarken fundamentalistischer Tendenzen samt der damit einhergehenden Demokratiefeindlichkeit entgegenwirken.
Mag.a phil. Maryam Laura Moazedi
Uni Graz
Religion kann identitätsstiftend wirken. Dazu muss sie nicht zwingend die eigene sein. Denn auch die Religion des sogenannten „Fremden“ wirkt, wenn sie als Basis dafür dient, die eigene Identität durch die Abgrenzung zum „Anderen“ zu definieren. Als wesentlich gelten (vermeintlich) kontrastierende Merkmale, soll heißen, man ist in erster Linie das, was der Andere nicht ist. Dieses Phänomen lässt sich seit Jahren beispielsweise in mehreren europäischen Ländern beobachten. Mit der Salienz von MuslimInnen wird das Christentum reflexhaft zu einem bedeutenden Marker der eigenen Identität – der individuellen, aber auch der kollektiven. Die Grenzen letzterer sind, je nach Bedarf, verschieb- und ausdehnbar und können das gesamte „christliche Abendland“ umfassen.
Als praktikabel erweist sich hier das reflexhafte Bekenntnis zum Feminismus. Der sogenannte „Femonationalismus“ bezieht sich auf den Umstand, dass in Europa nationalistische Parteien, die traditionell xenophobe und antifeministische Politik betreiben, spontan und massenhaft ihren Ruf zur Frauenbefreiung entdecken sowie „der Ausländer“ als Frauenunterdrücker gilt. Diese Neuentdeckung wird zum Teil der kulturellen Identität, gilt fortan als bedrohter Wert, den es zu verteidigen gilt, und bestimmt das Zugehörigkeits- und Nichtzugehörigkeitsgefühl. Das Resultat der Identitätsbildung durch Abgrenzung sind zwei Gegenpole: europäisch, westlich, zivilisiert, frauenfreundlich und christlich versus nicht-europäisch, nicht-westlich, unzivilisiert, frauenfeindlich und muslimisch.